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Bei ihm lernen Bakterien Zucker lieben

Den Sauerteig-Boom nutzt Mike Fischer auch bei süßen Backwaren aus.
Veröffentlicht am 30.05.2022
Bei ihm lernen Bakterien Zucker lieben

Unverputzte Wände, eine Kaffeebar und ein einzelnes Brotregal – die "baegeri" ist nicht sofort als Bäckerei erkennbar. Minimalistisch sind sowohl Interieur als auch Produktauswahl des Konzepts, das der Multi-Gastronom Fabio Haebel im November 2021 eröffnet hat.

Sechs verschiedene Gebäcke, mehr gibt es nicht. Doch das genügt, um den Shootingstar der "baegeri" ins Rampenlicht zu rücken: Sauerteig. "Unsere Kunden glauben es oft nicht so ganz, aber bei uns ist wirklich alles aus Sauerteig", macht Betriebsleiter und Bäckermeister Mike Fischer deutlich.

Die Grundlage ist Fischers eigener Sauerteig, den er bereits seit 21 Jahren pflegt und für alle Kreationen in der "baegeri" verwendet: Roggenvollkornbrot, Dinkel-Weizen-Brot, Flûte sowie Shokupan (japanisches Milchbrot) und Franzbrötchen.

Butter und Zucker für den Anstellteig

Süßes aus Sauerteig und ohne Hefe, geht das überhaupt? "Das ist natürlich extrem schwierig. Wir haben wochenlang experimentiert, bis es funktioniert hat", sagt Fischer. Der Trick: Den Sauerteig sozusagen umzüchten.

Beim Auffrischen mischt er kleine Mengen Butter und Zucker hinzu, so dass die Mikroorganismen im Anstellgut lernen, mit diesen Inhaltsstoffen umzugehen, ohne im Endprodukt die Triebkraft zu verlieren. Das ideale Rezept ist besonders wichtig, weil die "baegeri" komplett auf Hefe als Absicherung verzichtet.

Wenn mal etwas schiefgeht, müssen die Kunden eben vertröstet werden. Denn Sauerteig ist ein anspruchsvolles, traditionelles Handwerk – der Grund, warum sich Inhaber Haebel für dieses Konzept entschieden hat. Es funktioniert, weil Sauerteig immer gefragter wird.

Das erfährt die "baegeri" nicht nur durchs Kundenfeedback, sondern auch durch immer mehr Anfragen für Events und andere Gastronomien, wie zum Beispiel Tim Mälzers "Bullerei". Doch in der Backstube steht nun erst einmal die Entwicklung von Croissants und Brezeln an.

Einer, der sein Wissen um Sauerteige an andere weitergibt, ist Wolfgang Furtner, Bäckermeister und Lebensmitteltechniker, der an der Akademie in Weinheim unterrichtet. Für ihn ist die Verarbeitung von Sauerteigen "die letzte Hochburg, die das Handwerk vom Hobbybäcker trennt". Furtner: "Jeder kann sich ins Auto setzen und losfahren, aber geplant und unfallfrei von A nach B zu kommen, ist deutlich schwieriger."

Konkret meint er damit die Möglichkeit, über die Führung des Teigs den Geschmack und den Trieb beeinflussen zu können. "Das ist auch eine Frage des Getreides."

An genau diesem Punkt fordert Prof. Friedrich Longin, Agrarbiologe an der Universität Hohenheim, von Bäckern, "sich wieder mehr mit dem Handwerk auseinanderzusetzen". Statt die Anforderungen ans Mehl immer höherzuschrauben, sollten sich Bäcker mehr in die Materie einarbeiten. Longin: "Wenn ich neues Mehl bekomme, muss ich ein Testbrot machen und den Teig für die kommenden vier Wochen einstellen."

Einig ist er sich mit Wolfgang Furner, dass Teige lange arbeiten müssen, wenn sich Hefe- und Sauerteigbakterien bewegen sollen. Dazu sind nach Furtners Meinung Bäcker mit handwerklichen Wurzeln ohne Einschränkung in der Lage: "Jeder lernt das in der Ausbildung. Viele Bäckereien arbeiten auch täglich mit eigenen Sauerteigen." Er kenne keinen Bäcker, der ausschließlich Teigsäuerungsmittel verwende.

Für den Einstieg in die Verarbeitung von Sauerteigrezepturen empfiehlt er die einstufige Führung für ein Mischbrot milderer Säure. "Da kann ich den Teig nach Schichtende ansetzen und ihm zehn bis 20 Stunden Standzeit geben". Dafür geeignet seien Detmolder Einstufen Sauer und Weinheimer Qualitätssauer.

Roggenbrote lassen  sich ohne Versäuerung herstellen

Sei Roggenmehl früher so enzymstark gewesen, "dass nur Fladen aus den Öfen herausgekommen sind, wurden die Enzyme mittlerweile durch selektive Züchtung so weit reduziert, dass faktisch Roggenbrote ohne Versäuerung hergestellt werden könnten". Der Kunde erwarte aber aus der Gewohnheit heraus einen etwas säuerlichen Geschmack von Roggen- oder Roggenmischbroten.

Aber unabhängig davon, ob ein-, zwei- oder dreistufige Führung, böten aus Sauerteig hergestellte Brote viele Vorteile. Neben der längeren Frischhaltung von drei bis fünf Tagen sei es die geringere Anfälligkeit für Schimmel. Furtner: "Durch die längeren Standzeiten haben die Stärken mehr Zeit, Wasser aufzunehmen und geben es langsamer wieder ab." Diese Senkung des pH-Werts verhindere die Schimmelbildung – "ein Umstand, den sich auch Toastbrothersteller zunutze machen".

Neben der klassischen Verarbeitung von Sauerteigen für Roggen- und Roggenmischbrote hätten sich deutsche Bäcker das Teigmachen mit Weizensauer von den französischen Kollegen für die Herstellung von Kleingebäcken abgeschaut. "Davor haben sie mit Kochstücken und Vorteigen gearbeitet, um die Vorteile der längeren Haltbarkeit auszunutzen."

Zeit und Zuwendung fürs gute Ergebnis

Volle Konzentration auf pure und hochwertige Brotsorten, heißt es bei Max Kugel (31) in Bonn. Zehn Sorten gibt es, reiner Ladenverkauf, keine Lieferung. Sechs davon sind mit Sauerteig gelockert, die anderen haben einen Poolish-Anteil. "Ein Sauerteigbrot muss fruchtig sein, die milde Säure darf erst im Abgang spürbar sein", sagt Kugel. "Es soll eine schöne Kruste geben, die Krume soll saftig sein."

Einen Sauerteig in der zweiten und dritten Stufe zu führen brauche Zeit und Zuwendung. Die Konsistenz des Teiges wird im Reifeprozess stetig kontrolliert – ohne pH-Messgerät.

 

Von Arnulf Ramcke und Ralf Küchle (abzonline.de) vom 27. Mai 2022